Weg­wei­ser für psy­chi­sche Ge­sund­heit im Kan­ton Bern
Weg­wei­ser für psy­chi­sche Ge­sund­heit im Kan­ton Bern

Aus dem Tun­nel fin­den

„Mit letzter Kraft“, fuhr Daniel Weber*, 41, in seinem Auto in die
Klinik Münsingen. Kurz zuvor hatte er sich selber angemeldet. Er war körperlich
völlig erschöpft und fühlte sich wie in einem Tunnel ohne Licht. Er liess sich
in der 2017 eröffneten und offen geführten Station für Integrierte Depressionsbehandlung
Münsingen therapieren und erzählt, wie er diese Zeit erlebt hat.

Woran erinnern Sie
sich, wenn Sie an Ihren ersten Tag in der Klinik denken?

 

Als ich ankam, haben der Therapeut und zwei Pflegende schon
auf mich gewartet. Ich fühlte mich willkommen. Das war enorm wichtig. Es ist ein
langer Weg, bis man bereit ist, den persönlichen inneren Bankrott zu erklären.
In dieser Situation ist man auf sensible Menschen angewiesen.

Wie muss man sich
einen Tag in der Klink vorstellen?

Etwa einen Monat lang war ich emotional komplett überfordert.
Ich schlief viel, lag viel, war antriebslos, es gab keine Perspektiven. Es ging
ums Überleben. Es war wichtig, dass ich nicht mehr arbeitete, denn ich hatte
schon seit Monaten nur noch funktioniert. An der Arbeitsstelle war ich zwar noch einsatzfähig, aber den Haushalt machte ich schon lange
nicht mehr, unbezahlte Rechnungen und eine nicht ausgefüllte Steuererklärung lagen
zu Hause herum. In der Klinik hatte ich ein Bett, keine Verpflichtungen mehr,
keine Telefonate, keine Verantwortung.

Und danach?

Langsam wurde ich emotional stabiler, das Gedankenkreisen
hörte auf, auch dank den Beruhigungsmitteln. Die Medikamente wurden
eingestellt. Dabei konnte ich mitreden und fühlte mich jederzeit für voll
genommen.

Nach sieben Wochen merkte ich eines Morgens, dass der Motor
wieder lief. Das war einerseits die Wirkung der Medikamente, aber es brauchte
andererseits auch Psychotherapie. Mit einem Seil habe ich in der Therapie am Boden
die Hochs und Tiefs meines Lebens aufgezeigt. Auf diese Weise konnte ich aufräumen.
Auch mein soziales Netz habe ich wieder aufgebaut. Am Ende einer Depression ist
man isoliert. Heute habe ich wieder Kollegen. Schliesslich kam auch die Lebensfreude
zurück, eine innere Lebensfreude.

Welche Therapien
waren für Sie besonders hilfreich?

Die Psychoedukation lehrte mich, dass Depression eine
Krankheit ist und nicht einfach eine Verstimmung. So konnte ich mich selber
annehmen. Die CBASP**-Bewegungsgstherapie ist etwas
zwischen Turnen und Meditation. Einfache, banale Mechanismen werden dabei wieder
aufgezeigt: die Körperhaltung oder wie es ist, jemandem ein Lächeln zu schenken.
Es geht um Achtsamkeit. Fast jeder mit einer schweren Depression hat in der
Vergangenheit zu wenig Sorge zu sich selber getragen.

In der Genussgruppe habe ich gelernt, dass Genuss jedem
zusteht, und ich konnte meine Sinne wieder aktivieren.

Wie war der Kontakt
zu den anderen Patientinnen und Patienten?

Es war ein Schlüssel zum Erfolg. Andere haben ähnliche
Geschichten erlebt, viele davon sind traurig. Ich konnte Dinge besprechen, die
ich sonst mit niemandem besprechen würde. So entstanden Freundschaften.
Gerade gestern kam eine ehemalige Mitpatientin zu mir und brachte mir eine
Suppe mit. Ein Kollege von mir ist noch in der Klinik. Ich besuche ihn jeden
dritten Tag.

Wie verlief der
Austritt?

Der Austrittstag ist für mich rückblickend wie ein
Geburtstag. Schon in der Klinik habe ich alles geklärt: die Situation an meiner
Arbeitsstelle, Familie, Freunde, Hobbies, externe Therapie. Auch ein
Notfallpass wurde erarbeitet. Dabei wurden Frühwarnsysteme festgehalten, und es
wurde geregelt, was bei einem Notfall zu tun ist.

Wie sieht Ihr Leben
nach der Klinik aus?

Mein Leben ist einfacher gestaltet im Sinne von „weniger ist
mehr.“ Es läuft vieles falsch in der Gesellschaft, aber man kann auch vieles
selber steuern. Geschwindigkeit und Profit werden immer wichtiger. Deshalb muss
man lernen zu rasten. Heute lebe ich mein eigenes Leben. Ich habe die Stelle
und die Wohnung gewechselt. Manchmal falle ich in alte Muster zurück, aber das
kann man zulassen und grosszügig zu sich selber sein. Meine Kinder fragen mich
nicht mehr so häufig, wie es mir gehe. Das haben sie früher oft getan. Als ich
sie fragte, weshalb das so ist, sagten sie mir: „Wir wissen, dass es dir gut
geht.“

*Name von der Redaktion geändert

**CBASP steht für Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy.